Von Alois Höss
Meine zweite Weihnacht als Soldat im Zweiten Weltkrieg erlebte ich 1944 in Allenstein/Ostpreußen – heute Olysztyn in Polen. Das russische Militär hatte damals schon Gebiete von Ostpreußen erobert und besetzt.
Am Heiligen Abend war es ruhig an der Front. Es war von den russischen Truppen keine Bewegung zu sehen und zu hören. Unser Spieß (Hauptfeldwebel) meinte, nach seinen Informationen vom Divisionskommandeur könnte es über Weihnachten an der Front ruhig bleiben, so dass wir innerhalb unseres Funkzuges, rund zwanzig Soldaten, am Abend des 24. Dezember gemeinsam Weihnachten feiern könnten.
Ein Soldat musste aus dem naheliegenden Wald einen Weihnachtsbaum besorgen. Unsere Unterkunft war auf einem großen landwirtschaftlichen Betrieb, vielleicht ein Rittergut. Bei unserer Ankunft waren die Besitzer schon evakuiert und das Vieh weggetrieben.
Im Wohnhaus gab es eine geräumige Wohnstube mit großem Tisch, Stühlen und einer langen Sitzbank entlang den Außenseiten des Zimmers. Der Gefreite der Schreibstube musste auf dem Tisch den Christbaum aufrichten. Kerzen, Lametta und Christbaumkugeln waren nicht vorhanden. Als Ersatz sind in die Zweige und Astgabeln Hindenburglichter (Teelichter) gestellt worden.
In größeren Abständen erhielten wir an der Front als Verpflegungszulage pro Mann ein Marketenderpäckchen mit Gebäck, Schokolade und Zigaretten, so auch zu Weihnachten. Dies hat der Spieß auf den Tisch unter dem bescheidenen Christbaum auslegen lassen, dazu auch die Briefe und Päckchen, die kurz vor Weihnachten aus der Heimat für die Frontsoldaten gekommen waren. Diese wurden zurückbehalten und erst am Heiligen Abend auf den Gabentisch gelegt, damit an diesem Abend Freude und gute Stimmung aufkommen sollte.
Holz und ein schöner Kachelofen waren vorhanden, so dass das Zimmer gemütlich warm beheizt werden konnte. Draußen war es eisig kalt. Es war schon früh finster geworden und zwei Kameraden mussten bei dieser Kälte Wachtposten stehen.
Gegen 16 Uhr am Spätnachmittag hatten wir uns in der heimeligen Stube versammelt. Die Fensterläden mussten dicht geschlossen werden, damit kein Licht nach draußen kam, es hätte vom Feind beobachtet werden können.
Der Zugführer, ein Feldwebel, zündete die Lichter am Christbaum an. Es war still, man hätte Mäuse laufen hören können. Nach einer kurzen Pause sprach dann der Spieß zu uns besinnliche, sehr religiös fundierte Worte. Mir war nicht bekannt, welcher Konfession die einzelnen Kameraden angehörten. Von seinen Worten waren aber alle sehr berührt und betroffen. Nach seinem kurzen Vortrag stimmte er das Weihnachtslied „Stille Nacht, heilige Nacht” an. Alle Mitfeiernden stimmten kräftig mit ein. Jedoch Mitte der ersten Strophe des Liedes wurde es ruhiger und leiser, einige Stimmen verstummten. Von der zweiten Strophe erklang nur noch „Stille Nacht, heilige Nacht” und dann war der Gesang plötzlich zu Ende. Dies jedoch nicht, weil die Kameraden den Text des Liedes nicht kannten, sondern weil zwei Soldaten laut zu weinen angefangen hatten. Bei allen hörte man nur noch ein tiefes Atmen oder leises Schluchzen. Aus den Tränen in den Augen sah man schimmernd die Lichter des Weihnachtsbaumes.
Auch ich als junger Soldat konnte das Weinen nicht verbergen. Die Tränen liefen über meine Wangen. Damals war ich neunzehn Jahre als. Das Alter in unserer Kameradschaft lag zwischen achtzehn und etwa vierzig Jahren. Drei waren verheiratet, hatten Frau und Kinder zu Hause. Man spürte, dass in dieser Stunde alle vom Heimweh geplagt, mit den Gedanken bei den Familien daheim, bei Frau und Kindern, bei den Eltern, Geschwistern und Freunden und Freundinnen waren. Auch meine Gedanken weilten in die Heimat. Wie wohl meine Eltern, Großmutter, der ältere Bruder, die drei jüngeren Geschwister zusammen mit den Dienstboten den Heiligen Abend feierten? Ferner dachte ich an den Bruder, der als Gebirgsjäger in Jugoslawien im Kriegseinsatz diente und ganz besonders an den Bruder, der im März 1944 in der Ukraine in russische Kriegsgefangenschaft gekommen und von dem ungewiss war, ob er überhaupt noch lebte.
Nach dieser kleinen Andacht entwickelten sich einige Minuten der Besonnenheit und Stille zur Heiligen Nacht. Anschließend verteilte der Spieß die auf dem Gabentisch liegenden Briefe und Päckchen. Den Inhalt der aus der Heimat angekommenen Päckchen, überwiegend Weihnachtsplätzchen, verteilten die einzelnen Empfänger unter allen Kameraden. Zum Trinken gab es Tee, der mit etwas Alkohol angereichert war. Der weitere Verlauf dieses Abends ließ dann doch noch ein wenig Stimmung und Freude aufkommen.
Dieser Weihnachtsabend hat sich außergewöhnlich in meinen Gedanken und im Herzen eingeprägt, so dass er mir jedes Jahr zur Weihnachtszeit in Erinnerung kommt.
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